Gundolf Köhler: Wuschelkopf und Phantom

Februar 2015

Die kollektive Erinnerung an den Bombenanschlag auf dem Münchner Oktoberfest ist auf das Engste verbunden mit der Aufnahme eines wuschelköpfigen Schülers, etwa 16 Jahre alt, Karohemd, Pullunder und verträumte Augen. Direkt nach dem Anschlag wurde diese Fotografie massenhaft verbreitet, über die damaligen „Revolverblätter“ Quick und Bild, aber auch über das damals noch staatsmonopolistische Fernsehen. Es handle sich um den Täter, hieß es damals, oder reißerischer: „Er legte die Bombe“.

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Dieser junge Mann machte allerdings bis zum 26.9.1980, dem Tag des Anschlags, wie jeder andere junge Mann auch, noch eine bemerkenswerte Entwicklung durch. Fest steht jedenfalls, dass er am Tag des Anschlags kurze Haare gehabt hat; sämtliche Aussagen angeblicher Tatortzeugen zu diesem jungen Mann, die sich explizit auf dessen Wuschelkopf beziehen, den Wuschelkopf als Merkmal hervorheben, sind also unbrauchbar, was noch zu belegen sein wird.

Das gilt vor allem für solche Aussagen, die angebliche Mittäter ins Spiel bringen und diese geheimnisvollen Mittäter kurz vor dem Anschlag als im Gespräch mit einem Wuschelkopf befindlich darstellen.

Wie immer, viel Käse dabei, bei den Zeugenaussagen. Das ist ganz normal.

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Wer war dieser Köhler?

Wie eine Litfaßsäule der Erinnerung ist Köhler im Laufe der Jahrzehnte mit Etiketten der diffamierenden oder willkürlichen Zuschreibung bedeckt worden. Da wir ihn nicht persönlich kennen, können wir hier nicht sein Wesen ausbreiten. Aber wir können die Etiketten eine nach der anderen ablösen.

Da ist zunächst die Legende von der „Mitgliedschaft“ Köhlers bei der „Wehrsportgruppe Hoffmann“. Diese Legende wird heute von den zentral zuständigen Geschichtenerzählern des Oktoberfest-Attentats nicht mehr gar so offensiv vertreten, zumal man weiß, dass sie vor allem aus Unsinn besteht. Man nimmt es aber gern in Kauf, dass sich das Gerücht, oder wenigstens der sprachliche Rest eines Gerüchts in dieser Hinsicht hält.

Tatsächlich ließ sich Köhler 1976 von seinen Eltern zu einer Übung der WSG chauffieren und wiederholte seine Schnupper-Teilnahme ein weiteres und letztes Mal. Der „Chef“ der WSG konnte nicht umhin, dem Wuschelkopf die Haare zu schneiden; und ein Offizier der WSG rügte ihn für den albernen Knallkörper, den er zur Übung mitgebracht hatte. Eine Uniform erhielt er nicht, auch keine Mitgliedskarte. Danach war für Köhler Schluss mit WSG; er hatte sich mit dieser Aktion einen Eintrag im NADIS-System der deutschen Sicherheitsbehörden geholt und versuchte später, Hoffmann per Postpaket mit einer Flasche Wein zu beglücken, ja ihm brieflich die Gründung einer WSG-Filiale unter seiner Leitung anzutragen.

Beides irrsinnige Aktionen, denn Hoffmann rührte damals – nach eigenen Angaben auch heute noch – keinen Alkohol an und hätte einen frisch geschorenen 17-Jährigen, der unaufgefordert mit selbstgebauten Knallkörpern am Übungsplatz erscheint, nicht zum WSG-Offizier gemacht.

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(WSG-Vize-Unterführer Marx bei der Gesichtskontrolle)

Trotzdem hat man immer wieder versucht, Köhler als „Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann“ (Generalbundesanwalt Rebmann) darzustellen. Medien wie der Stern verwendeten dazu Bildmaterial wie das oben stehende Foto. Es kann nicht Köhler zeigen; die Körpergröße stimmt nicht, das wurde dutzende Male nachgewiesen, und wer Augen hat, zu sehen, erkennt, dass der Mann im Vordergrund des Bildes auch dem Gesicht nach anders aussieht als unser Phantom.

Wie auch immer, nicht nur Köhlers Gesicht besteht aus Phantom-Zügen, aus Lügen, Irrtümern und Erfindungen. Was kann man alles in den Charakter eines Menschen hineininterpretieren? fragt man sich bei der Lektüre des Abschlussberichts der Bundesanwaltschaft. Alles und nichts, möchte man antworten und stellt sich vor, selbst so beschrieben zu werden:

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Ein eiskalter Borderliner, der Rock-Schlagzeuger Köhler, möchte man ausrufen, und auch noch Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann! Bei näherer Betrachtung zerfällt alles zu Staub, was an „behördlichen Erkenntnissen“ über diesen Jungen vorhanden war. Am Ende wirft die Bundesanwaltschaft ihm gar vor, in seiner Schulzeit mit einer Spritzpistole und gefährlichem Zitronensaft seine Mitmenschen angegriffen zu haben. Eiskalt und gefährlich, fast so schlimm wie seine Silvesterböllerei und sein Interesse für „Sprengungen“ im Wald.

Sogar im Arbeitskreis NSU finden sich Leute, die in ihrer Jugend Wald- und Wiesensprengungen durchgeführt haben. Es bedeutet nichts. Nicht einmal, dass man Mitglied des Arbeitskreises NSU ist, der auch keine Mitgliedskarten ausgibt.

Was macht man mit dem Köhler und seinem dämonischen, in Wirklichkeit ausgesprochen banalen Charakter im Jahr 2015? Es bleibt nichts als der Verdacht, dass dieser vergleichsweise farblose junge Mann eine ideale Projektionsfläche war. Ein psychisch schwer beeinträchtigter „Zeuge“ will mit ihm regelmäßigen Geschlechtsverkehr gehabt haben; seine Eltern und anderen Verwandten fanden ihn unauffällig und nett; er wählte die Grünen und interessierte sich für den Schutz von Kulturdenkmälern in der Region.

Da gab es wohl auch Bekanntschaften zu stramm antikommunistischen Kräften, aber auch die sollen längst vor dem Anschlag abgeflaut sein. Über Zufallsbekanntschaften und verdeckte Verbindungen wissen wir noch nichts. Wir kennen Gundolf Köhler nicht und müssen uns um sein Bild bemühen, gegen die alten Klischees.

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